Nach kritischen Äußerungen von Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) über den Wolfsgruß des türkischen Nationalspielers Merih Demiral im EM-Achtelfinale gegen Österreich hat die Türkei am Mittwoch den deutschen Botschafter einbestellt. Das bestätigte eine Sprecherin des Auswärtigen Amtes der F.A.Z. „Auch wir werden den Vorfall morgen mit dem türkischen Botschafter thematisieren“, sagte sie weiter. Die Innenministerin habe sich „für die Bundesregierung zu der Thematik eingelassen“. Faeser schrieb auf der Plattform X über Demirals Siegergeste, „Symbole türkischer Rechtsextremisten haben in unseren Stadien nichts zu suchen“.

Es sei „völlig inakzeptabel“, die Fußball-EM „als Plattform für Rassismus zu nutzen“. Demiral hatte seinen zweiten Treffer mit dem sogenannten Wolfsgruß bejubelt. Die Geste ist das Erkennungszeichen der rechtsextremen Organisation „Graue Wölfe“, sie wird in der Türkei aber auch als allgemeines pa­triotisches Symbol verwendet.

Mainstream in der Türkei

Das türkische Außenministerium schrieb, „die Reaktionen der deutschen Behörden“ seien „fremdenfeindlich“. Demirals Geste sei ein “historisches und kulturelles Symbol”, das sich gegen niemanden richte. Zudem verwies das Ministerium auf eine Schrift des deutschen Verfassungsschutzes vom September 2023, in der es heißt, „nicht jeder Verwender dieses Grußes” sei ein türkischer Rechtsextremist.

Tatsächlich ist in der Türkei die Aufregung über Merih Demirals Wolfsgruß nicht annähernd so groß wie in Deutschland. Das liegt zum einen daran, dass der Rechtsnationalismus in der türkischen Politik schon länger zum Mainstream gehört. Die Mutterpartei der „Grauen Wölfe“, die MHP, hat 2015 ein Bündnis mit Präsident Recep Tayyip Erdoğan geschlossen und ist seither an der Macht beteiligt.

Es liegt zum anderen daran, dass der Wolfsgruß in der Türkei in den vergangenen Jahrzehnten eine Bedeutungsveränderung erfahren hat. Selbst der frühere Präsidentschaftskandidat der Opposition Kemal Kılıçdaroğlu hat ihn im Wahlkampf schon gezeigt, um nationalistisch gesinnte Wähler anzusprechen. Das ist besonders bemerkenswert, weil Kılıçdaroğlu der religiösen Minderheit der Aleviten angehört.

„Der Wolfsgruß ist nicht die türkische Version des Hitlergrußes. Es ist komplizierter“, sagt Jannes Tessmann, Büroleiter der Stiftung Mercator in Istanbul. Einerseits sei der Gruß das Zeichen der türkischen Rechtsextremen, die für viele Morde und Gewalttaten an Linken und ethnischen und religiösen Minderheiten verantwortlich seien. Die meisten davon wurden in den Siebziger- und Achtzigerjahren begangen.

Ausdruck einer „breiteren politischen Identität“

„Am Jahrestag von Sivas wiegt das besonders schwer“, sagt Tessmann. In der Stadt Sivas waren am 2. Juni 1993, also am gleichen Tag wie das Achtelfinale Türkei gegen Österreich, bei einem Brandanschlag auf ein alevitisches Kulturfestival 35 Menschen getötet worden. „Andererseits“, sagt Tessmann, „wird der Wolfsgruß von vielen anderen Gruppen als patriotisch-nationalistisches Zeichen benutzt, weil der Wolf in der historischen Abstammungslegende der Türken eine zentrale Rolle spielt.“ Deshalb sei das Zeichen in der Türkei „salonfähig“.

So sieht es auch Murat Somer, Politikwissenschaftler von der Özyeğin-Universität in Istanbul. Der Wolfsgruß werde von manchen als Ausdruck einer „quasifaschistischen Ideologie“, von anderen als Ausdruck einer „breiteren politischen Identität“ verwendet. Die Geste könne also je nach Kontext und Person eine legitime patriotische Meinungsäußerung oder eine Rechtfertigung von Gewalt gegen Minderheiten bedeuten. Der Wolfsgruß sei im Zuge des Aufstiegs des türkischen Nationalismus „normalisiert“ worden. Das geschah auch mithilfe türkischer Mainstream-Parteien, die manche Symbole und Diskurse übernahmen, um sie dem Monopol der Rechtsextremisten zu entreißen. So habe der Oppositionspolitiker Kılıçdaroğlu im Wahlkampf den Wolfsgruß genutzt, „um die Polarisierung der Gesellschaft zu überwinden”, sagt der Politikwissenschaftler.

Wolfsgruß und Atatürk-Zitat

Das Symbol sei problematisch, weil es von Kurden, Aleviten und Linken als beleidigend empfunden werden könne, findet Somer. Vielen Türken sei die ideologische Bedeutung der Geste jedoch gar nicht bewusst. Deshalb sehe eine Mehrheit das Disziplinarverfahren der UEFA gegen Demiral wohl als „eine Form der Diskriminierung von Türken“.

In diese Kerbe schlug auch der MHP-Vorsitzende Devlet Bahçeli, der die UEFA-Untersuchung in eine Reihe mit jüngsten antitürkischen Krawallen in Nordsyrien stellte.

Demiral postete auf der Plattform X übrigens nicht nur seine Siegerpose mit dem Wolfsgruß. Er schrieb darüber: „Wie glücklich ist, wer sagt ‚ich bin Türke‘.“ Den Ausspruch des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk lernt jedes türkische Kind in der Schule.