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Sergej ist gerade erst in Eriwan angekommen. Mitnehmen konnte er nur das, was in seinen Rucksack passt. Nicht einmal einen Reisepass hat er. Armenien ist eines der wenigen Länder, in die Russen nur mit dem Äquivalent des Personalausweises einreisen können. Es musste schnell gehen, denn Sergej, der eigentlich anders heißt, ist geflohen, desertiert aus der russischen Armee. „Ich bin gegen den gesamten Krieg“, sagt der Mittzwanziger, der geboren wurde, als Wladimir Putin an die Macht kam. Den erkenne er nicht als Präsidenten an. „Er gibt den einfachen Menschen keine Zukunft.“

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Sergej sagt, er verachte seine früheren Kameraden, die „für Geld töten“. Beim Videogespräch über einen Messengerdienst steht er auf einem Balkon, bisweilen zieht er an einer Zigarette. Dann tritt er in einen einfachen Raum, in dem die Farbe von Wänden und Decke abblättert.

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Sergej kommt aus Kaliningrad, Russlands westlicher Exklave. Dort habe er sich vor fünf Jahren nach dem Grundwehrdienst als Berufssoldat verpflichtet, erzählt er. Zum Broterwerb, nicht, weil er kämpfen wollte. „Anfangs gefiel es mir.“ Die Armee gab ihm ein stabiles Einkommen, ermöglichte ein technisches Studium. Der Überfall auf die Ukraine vom 24. Februar 2022 traf Sergej wie die meisten Russen völlig unvorbereitet. „Ich verstand gleich: Das ist ein verbrecherischer Krieg.“

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Er floh, als er in die Ukraine sollte

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Lange hoffte er, nicht an die Front zu kommen, versuchte auch, zu kündigen, so schildert es Sergej. Aber nachdem Putin im September 2022 die „Teilmobilmachung“ verkündet hatte, gab das den Streitkräften die rechtliche Handhabe, alle solche Anträge abzulehnen. Ende vorigen Jahres kam Sergej ins Grenzgebiet zur Ukraine.„Als Reserve“, sagt er, „die Verluste sind sehr hoch.“ Er und seine Kameraden lebten laut seinen Worten monatelang im Wald und hoben Schützengräben aus, um eine mögliche Offensive auf die Gebietshauptstadt Belgorod abzuwehren. Die werde kommen, meint Sergej. „Putin kontrolliert die Lage nicht mehr.“

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Jede Nacht habe es Alarm gegeben. Eines Morgens im März seien sie geweckt worden mit den Worten, Panzer griffen an. Schüsse und Explosionen ganz in der Nähe, der Boden zitterte, Flammen. Es war ein neuer Vorstoß russischer Freiwilligenverbände, die aufseiten Kiews kämpfen. „In Gedanken habe ich mich von allen verabschiedet“, sagt Sergej. Er habe dann noch einmal „Glück gehabt, Gott hat mich beschützt“.

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Später meldete Russlands Militär, „dass die Saboteure vernichtet worden sind. In Wirklichkeit sind sehr viele von unseren Leuten in Gefangenschaft geraten.“ Dann habe sich abgezeichnet, dass er bald in die Ukraine geschickt werde. „Da bin ich geflohen.“

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Schlupflöcher bisher nicht gestopft

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Sergejs Weg nach Armenien soll hier nicht geschildert werden: Er gilt den Helfern des Projekts „Iditje Lessom“, das er über Telegram kontaktierte, als Korridor, der offen bleiben soll. Gar nicht so kompliziert war die Flucht. Dass die Schlupflöcher bisher nicht gestopft worden sind, mag daran liegen, dass der Krieg weiter nur eine „Spezialoperation“ sein und auch beim Reisen eine gewisse Normalität aufrechterhalten werden soll. Oder daran, dass die Zahlen der Deserteure, die Russland verlassen, vielleicht nicht so hoch sind, wie es Tausende Strafverfahren um unerlaubte Entfernung von der Einheit vermuten lassen.

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Anton Gorbazewitsch von „Iditje Lessom“ beziffert die Zahl der Fahnenflüchtigen, die man seit Herbst 2022 aus Russland und den besetzten Teilen der Ukraine in verschiedene Länder geleitet habe, auf rund 500. Insgesamt gibt das Projekt die Zahl der unterstützten Russen mit mehr als 27.000 an. Zum Angebot zählen neben der Fluchthilfe auch psychologische Hilfe, juristische Beratung und Tipps, sich innerhalb Russlands zu verstecken.

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Der Name der Gruppe ist ein dazu passendes Wortspiel: „Geht in den Wald“ fordert zum einen Russen auf, sich abzusetzen, statt in den Krieg zu ziehen – in der Frühzeit der Mobilmachung versteckten sich wirklich einige Russen in der Wildnis. An die Machthaber gerichtet, bedeutet der Spruch zugleich so viel wie „Schert euch zum Teufel“.

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Die spendenfinanzierte Organisation hat ihren Sitz in der georgischen Hauptstadt Tiflis. Dorthin kam Gorbazewitsch, Mitte 30 und aus Sankt Petersburg, im Herbst 2022 nach der Mobilmachung mit Zigtausenden anderen jungen Russen über die Landgrenze im Großen Kaukasus. „Ich wollte nicht weg“, sagt Gorbazewitsch, der sich seit Langem in Oppositionskreisen bewegte. „Aber es war zu gefährlich geworden.“

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Aus Petersburg nach Georgien kam auch der Gründer des Projekts, Grigorij Swerdlin. Er sieht „Iditje Lessom“ über die Hilfe im Einzelfall hinaus als Beitrag dazu, die Kampfkraft von Putins Armee zu schwächen. Russland hat Swerdlin im November zum „ausländischen Agenten“ erklärt und zur Fahndung ausgeschrieben, unter welchen Vorwürfen, ist unbekannt.

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Unklar, wie die Abtrünnigen einreisen sollen

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Sein Mitstreiter Gorbazewitsch übernimmt es, in schwierigen Fällen die Evakuierung zu organisieren. Route und Ziel sollen so sicher wie im Einzelfall möglich sein. Manchmal hilft das Projekt gar mit Geld, bezahlt etwa Tickets. „Wenn ein Mensch nicht töten will, müssen wir ihm helfen“, erklärt Gorbazewitsch den Grundsatz. Doch gibt es Ausnahmen: „Iditje Lessom“ schließt mutmaßliche Kriegsverbrecher sowie Milizionäre aus, die in Russland wegen Gewaltverbrechen in Straflager kamen und dort für die Front rekrutiert wurden. Solche sollten ihre Schuld in Haft verbüßen „und nicht stattdessen Ukrainer töten“, sagt Gorbazewitsch. Doch sei das Projekt „kein Tribunal und keine Ermittlungsbehörde“.

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Die Helfer stellten aber Kontakte zu der Ukraine-Ermittlungskommission her, die der UN-Menschenrechtsrat eingesetzt hat. Acht von zehn Deserteuren seien bereit auszusagen, sagt Gorbazewitsch. Er berichtet, die Soldaten verständen nicht, wofür sie kämpften, seien schlecht ausgerüstet und würden von ihren Kommandeuren wie „Verbrauchsmaterial“ behandelt.

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Westliche Politiker haben zwar angekündigt, Russen aufzunehmen, die nicht für Putin kämpfen wollen. Aber als Asylgrund ist das bisher nicht allgemein anerkannt und in der Praxis voller Hürden. Meist ist schon unklar, wie die Abtrünnigen einreisen sollen. Hat ein Soldat einen Reisepass, den sogenannten Auslandspass, sind Länder wie die Türkei, Argentinien und Libanon erreichbar, die Russen ohne Visum einreisen lassen. Für Sergej und andere Deserteure, die nur den „Inlandspass“ haben (das Personalausweisäquivalent), sind solche Länder außer Reichweite.

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Belarus und Kirgistan sind erreichbar, gelten aber als gefährlich. Auch erreichbar sind Kasachstan und Armenien, wohin sich viele Abtrünnige absetzen. Dort können sie sich nicht ganz sicher fühlen. In Kasachstan wurde ein Offizier des Geheimdiensts FSO wegen illegaler Einreise festgenommen und an Russland ausgeliefert, wo er sechseinhalb Jahre Haft erhielt. In Armenien gibt es einen russischen Armeestützpunkt in der Stadt Gjumri, deren Militärpolizisten auch außerhalb der Basis ausschwärmen.

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Ein Deserteur, dem „Iditje Lessom“ geholfen hatte, nach Eriwan zu kommen, wurde von ihnen nach Gjumri gelockt und festgenommen, nach Russland geschafft und sitzt nun dort in Untersuchungshaft. Das Projekt spricht von einer Entführung, denn die Praxis ist illegal. Sergej sucht jetzt in Eriwan Leute, die ihm helfen könnten, träumt von einem Neustart „in Europa“. Auch wenn die Aussichten dafür nebulös sind, ist er erst einmal froh, nicht in den Krieg zu müssen. „In Russland hätte ich mehr Angst“, sagt Sergej.

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