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Nach seiner Zeit im Amt, im Jahr 2022, schrieb Spahn ein Buch mit dem vielversprechenden Titel: „Wir werden uns viel verzeihen müssen“. Das klang nach früher Selbstkritik, aber der Autor ging dann doch recht nachsichtig mit sich um. Seither ist die Bereitschaft führender Pandemiepolitiker, kritisch auf ihr Wirken zurückzublicken, in Schüben gewachsen. Helge Braun, bis Ende 2021 Kanzleramtschef in Merkels Kabinett, räumte ein, dass die damalige Bundesregierung die Wirkung der Impfstoffe auf das Infektionsgeschehen zu hoch eingeschätzt habe. „Wir haben eine Erwartung geschürt, die wir am Ende nicht erfüllen konnten“, sagte er. Selbst Karl Lauterbach, Spahns sozialdemokratischer Nachfolger im Gesundheitsministerium und ein Falke des Infektionsschutzes, gab „Fehler“ zu. Die Schulen seien zu lange geschlossen worden, „und mit den Lockerungsmaßnahmen haben wir wahrscheinlich etwas zu spät angefangen“, sagte er.

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„Flatterband an Kinderspielplätzen war sicher Unsinn“, sagt der frühere Gesundheitsminister Jens Spahn heute
“Flattering tape at children's playgrounds was certainly nonsense,” says former Health Minister Jens Spahn todaydpa

Das ist ein Anfang. Aber vielen gehen derartige punktuelle Eingeständnisse nicht weit genug. Sie sehen das Problem nicht in der einen oder anderen Fehlentscheidung, sondern im strukturellen Umgang mit der Pandemie. Sie fragen sich, warum nicht mehr über die Angemessenheit der Grundrechtseingriffe nachgedacht wurde, warum Zweifler, Kritiker und Andersdenkende selten gehört, oft ausgeschlossen und manchmal sogar diffamiert wurden. Warum, wie es die FDP-Abgeordnete Linda Teuteberg ausdrückt, die „Ambiguitätstoleranz“ so niedrig war.

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Teuteberg beklagt eine „Verächtlichmachung“ jener, die auf den rechtsstaatlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verwiesen und auf die bürgerlichen Freiheitsrechte gepocht hätten. Die Liberale beschäftigt, dass so viele abweichende Meinungen „ausgeblendet“ worden seien, „dass die Vielschichtigkeit des Themas nicht kommuniziert wurde – vor allem von jenen nicht, die, wenn andere vereinfachen, schnell mit dem Vorwurf des Populismus bei der Hand sind“.

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In den Augen ihres Parteifreundes Wolfgang Kubicki ist all das nicht ohne Folgen geblieben. Die Pandemiepolitik habe „schwere gesellschaftliche Schäden“ verursacht und „Spaltungstendenzen“ vertieft, sagte der stellvertretende Bundestagspräsident kürzlich. Vielerorts werde „unterschätzt, wie tief die Enttäuschung, wie groß die Frustration und wie fortgeschritten die Abwendungstendenzen von Teilen unserer Gesellschaft sind“.

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Nachvollziehbare Einwände

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Viele haben nicht vergessen, in welcher Welt sie vor vier Jahren lebten. Im April 2020 durften sie keine Freunde besuchen und keine Familienmitglieder; nicht einmal, wenn diese im Sterben lagen. Die meisten Geschäfte waren geschlossen, ebenso Kinos, Theater, Sportvereine und viele weitere Einrichtungen. Im öffentlichen Raum – oder dem, was davon übrig geblieben war – durfte man nur mit höchstens einem anderen Menschen verkehren; auf staatlich vorgeschriebenem Abstand. Erwachsene gingen nicht mehr zur Arbeitsstelle, die Kinder nicht mehr in die Schule.

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Später kam es zu weiteren Stilllegungen des öffentlichen Lebens und neuen, bis dahin unbekannten Einschränkungen. Wer keine staatlich zertifizierte Maske trug, wurde nicht mehr ins Geschäft gelassen. Nur wer geimpft (oder per Nachweis „genesen“) war, durfte im Zug reisen oder im Restaurant essen. Für manche Berufsgruppen herrschte „Impfpflicht“ – viele Politiker wollten sie, als andere Länder schon zur Normalität übergegangen waren, für alle Bürger einführen.

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Die meisten Bürger – Spahn spricht von 80 bis 90 Prozent – trugen die Maßnahmen mehr oder weniger klaglos mit, weil sie der Politik prinzipiell zugutehielten, nach bestem Wissen und Gewissen zu handeln. Eine nicht unerhebliche Anzahl empfand die staatlichen Maßnahmen aber schon damals als unangemessen. Einige unterstellten dem Staat sinistre Absichten, etwa Ängste zu schüren, um neue Kontroll- und Überwachungsmöglichkeiten zu testen.

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Andere hatten aber auch nachvollziehbare Einwände. Sie forderten, Gesundheitsschutz und Freiheitsrechte anders auszutarieren oder zumindest den sozialen, psychologischen und wirtschaftlichen Kollateralschaden von Lockdowns stärker in den Blick zu nehmen. Sie bezweifelten – vor allem in der Spätphase der Pandemie – die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen. Sie misstrauten den neuen Impfstoffen und sahen sich dafür als „asoziale Trittbrettfahrer“ oder „Covidioten“ verunglimpft.

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Vertrauensverlust durch falsche Versprechen

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Zahlreiche Bürger, die damals von Politikern, aber auch von Journalisten oder Prominenten als verantwortungslos bezeichnet wurden, hätten „mit ihrer Skepsis oder Kritik im Nachgang recht behalten“, sagt die Grünen-Abgeordnete Tabea Rößner. Manche hätten am eigenen Leib gespürt, dass das „Versprechen eines nebenwirkungsfreien Impfstoffs, wie es von manchen dargestellt wurde“, unwahr gewesen sei, und sich von der Politik im Stich gelassen gefühlt. Andere sähen sich inzwischen bestätigt, dass viele Maßnahmen nicht sinnvoll gewesen seien. Das habe zu einem „Vertrauensverlust“ geführt, sagt die Grüne, die damals zu den wenigen in ihrer Partei gehörte, die sich gegen eine Impfpflicht ausgesprochen hatte.

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Zum vielleicht überraschendsten Ankläger hat sich Armin Laschet entwickelt, der in der Hochphase der Pandemie Ministerpräsident in Düsseldorf war und dann als Kanzlerkandidat der Union am politischen Himmel verglühte. Unlängst saß Laschet, inzwischen ein einfacher Bundestagsabgeordneter, auf einem Fernsehpodium zum Thema Freiheit, als es geradezu aus ihm herausbrach: Es habe zur Zeit der Pandemie „nur eine einzige Meinung gegeben“, die als richtig angesehen worden sei, klagte er. Mehrheitspositionen seien unzulässig moralisiert worden: „Man war auf dem Trip: Alles schließen ist gut.“ Er selbst schien darunter gelitten zu haben. Weil er im Kreis seiner Ministerpräsidentenkollegen kritisch gefragt hätte, ob bestimmte Maßnahmen wirklich nötig seien oder man sie nicht früher zurücknehmen könne, sei er von ihnen als „Lockerer, der das alles nicht ernst nimmt“ wahrgenommen worden.

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Das „Versprechen eines nebenwirkungsfreien Impfstoffs“: Der frühere Gesundheitsminister Jens Spahn lässt sich im Oktober 2021 abermals impfen.
The “promise of a vaccine without side effects”: Former Health Minister Jens Spahn will be vaccinated again in October 2021.via REUTERS

Wenige Wochen nach seinem Ausbruch im Öffentlich-Rechtlichen sitzt Laschet in seinem Berliner Bundestagsbüro und ist kein Stück milder geworden. Er spricht von einer „großen Verbitterung in der Gesellschaft“, die er vor allem auf die „Rigorosität im Umgang mit Andersdenkenden“ zurückführt. „Wer nicht der Mehrheitsmeinung war, fand sich in der Ecke der Leugner wieder, auf der bösen Seite“, sagt er. Dabei erinnert er sich an eigene Erfahrungen, aber auch an die des ungeimpften Fußballers Joshua Kimmich oder des Aichacher Gesundheitsamtschefs Friedrich Pürner, der wegen seiner Kritik an der bayrischen Corona-Politik strafversetzt wurde.

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Wenig Verständnis bringt Laschet auch dafür auf, dass damals Wissenschaftler und Ärzte von den tonangebenden Kollegen als „Pseudoexperten“ herabgesetzt wurden, wenn sie den Effekt von Schulschließungen oder Gesichtsmasken aufs Infektionsgeschehen bezweifelten oder die Wirksamkeit und Sicherheit von Impfstoffen skeptischer einschätzten. „Immer hieß es: Die Wissenschaft sagt . . . Aber DIE Wissenschaft sagt nie etwas, erst recht nicht zu detaillierten Einzelmaßnahmen. Das Wesen von Wissenschaft ist offener Diskurs, nicht Dogma.“

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Laschet will sicherstellen, dass sich die Politik bei der nächsten Pandemie um eine breitere Beratung bemüht. Während der Pandemie seien die immer gleichen Fachleute hinzugezogen worden, die sich im Wesentlichen einig gewesen seien. Auch habe es in Berlin zu wenig Einfluss medizinferner Experten gegeben, etwa von Wirtschaftsfachleuten, Psychologen oder Philosophen. Der frühere Ministerpräsident führt seine im Ländervergleich oft liberaleren Maßnahmen auch darauf zurück, dass er in den eigenen Beratungsstab einen Ethiker, einen ehemaligen Verfassungsrichter und einen Wirtschaftsweisen berufen hatte.

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„Wir müssen sie auf den Straßen erwischen.“

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Laschet treibt aber auch um, mit welcher Inbrunst Verantwortliche in Politik und Verwaltung die Maßnahmen umgesetzt haben. Noch heute schüttelt er den Kopf, wenn er daran denkt, was er in seinem weiteren Umfeld so alles gehört hat: „Wir müssen sie auf den Straßen erwischen“, sagte einer. Ein Kommunalpolitiker beklagte sich über eine von Laschet angeordnete Lockerung für Kioskbetreiber mit den Worten: „Und ich war gerade dabei, das Kiosk-Unwesen zu beenden.“

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Einiges Unbehagen beschleicht den CDU-Politiker, wenn er das politisch-gesellschaftliche Klima dieser Jahre in die Zukunft projiziert. Wenn es genüge, eine Notlage festzustellen, um elementare Grundrechte außer Kraft zu setzen und Kritiker moralisierend in die Ecke zu stellen – könnte das womöglich Schule machen? Ließen sich nicht auch andere Notstände ausrufen, etwa der Klimawandel? Eine Kostprobe gab Robert Habeck, der nach dem ersten Lockdown, damals noch als Grünen-Chef, sagte: „Der Vorwurf, ein Tempolimit sei eine ungebührliche Einschränkung der bürgerlichen Freiheit auf der Autobahn, klingt jetzt irgendwie noch lächerlicher als ohnehin schon – jetzt nach der Schließung von Kirchen, Schulen und so weiter.“ Die FDP-Abgeordnete Teuteberg hielt Habeck daraufhin einen „Flirt mit dem Ausnahmezustand“ vor.

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Zur Leitfrage einer möglichen Enquetekommission will Laschet diese machen: „Wie hat sich Politik beraten lassen, und wie haben Abwägungsprozesse stattgefunden?“ Nur eine ehrliche, offene Aufarbeitung entlang dieser Frage gewährleiste, dass eine „gesellschaftliche Versöhnung“ beginnen könne, sagt er. Solange dieser Prozess auf sich warten lasse, versorge man „die AfD mit Frischwasser“.

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Dies wird von vielen Abgeordneten genau andersherum gesehen, vor allem von jenen, die damals voll hinter den Maßnahmen standen, sie manchmal sogar gerne verschärft hätten. Die Grüne Katrin Göring-Eckardt, stellvertretende Bundestagspräsidentin, warnte kürzlich, dass eine Aufarbeitung dafür „missbraucht“ werden könnte, Handelnde in Politik, Ärzteschaft und Wissenschaft zu „diffamieren“. Es werde bis heute „mit der Pandemie Stimmung gegen unsere parlamentarische Demokratie gemacht“. Gemeint war die AfD. Ähnliche Argumente sind aus der SPD-Fraktion zu hören. Eine Aufarbeitung dürfe nicht zum „Spielplatz für Demokratiefeinde“ werden, sagt die Sozial- und Gesundheitspolitikerin Dagmar Schmidt. Es könne nicht Ziel der Aufklärung sein, „die Streits in den Talkshows noch einmal neu aufzulegen“.

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„Durchsichtiges Manöver“

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Gleichwohl, auch die Aufarbeitungsskeptiker können sich dem wachsenden öffentlichen Druck nicht mehr entziehen. Seit das Robert-Koch-Institut seine Corona-Protokolle herausgeben musste und dabei viele Stellen schwärzte, ist die Debatte über eine Enquetekommission neu entbrannt. Weil niemand als Gegner von Aufklärung und Transparenz dastehen will, versuchen nun jene, die die Sache lieber auf sich beruhen lassen würden, eine Gegenstrategie zu entwickeln.

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Der Vorsitzende der SPD-Fraktion, Rolf Mützenich, schlug die Einrichtung eines „Bürgerrats“ vor, dessen Ergebnisse dann in einer noch nicht näher definierten „Kommission“ erörtert werden sollten. Mit dieser Idee können sich auch viele Grüne anfreunden. Aber bei der FDP wittert man eine Nebelkerze. „Das ist ein durchsichtiges Manöver“, sagt Teuteberg. „Wesentliche Fragen gehören nach unserer Verfassung ins Parlament und nicht in dort weder vorgesehene noch demokratisch legitimierte Nebengremien wie Bürgerräte.“

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Teutebergs Verdacht, dass über das Alternativinstrument die Aufarbeitung verwässert werden soll, wird von den Bürgerratsbefürwortern selbst genährt. Die Sozialdemokratin Schmidt lehnt eine – von Abgeordneten und Fachleuten besetzte – Enquetekommission ab, „weil das eher dem Wunsch entspringt, mit dem Finger auf andere zeigen zu können“. Sie sagt: „So eine Show braucht niemand!“

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Lieber will Schmidt über einen Bürgerrat, in dem 160 per Los bestimmte Mitglieder sitzen sollen, „Betroffenheit einbringen“. Auch erhofft sie sich von dem Rat Debatten wie die über die Notwendigkeit eines „resilienten Sozialstaats“, ohne den die nächste Pandemie nicht zu bewältigen sei. Man könnte auch sagen, die Sozialdemokraten möchten verhindern, dass über die politisch schmerzhaften Fragen gesprochen wird. Und sie wollen eine Aufklärung ohne Mitwirkung der AfD.

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Die Grüne Rößner fragt sich, ob sich das Streiten über den institutionellen Rahmen überhaupt lohnt. „Ob wir das befriedigend aufklären, hängt nicht so sehr vom Format der Kommission ab, sondern von der Bereitschaft, sich im Parlament und auf allen politischen Ebenen – gerade auch in den Ländern – tatsächlich damit auseinanderzusetzen und Lehren daraus zu ziehen“, sagt sie. „Sonst werden die Erkenntnisse, wie schon bei früheren Kommissionen, in der Schublade verschwinden.“

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In der kommenden Woche wollen die Parlamentarischen Geschäftsführer der Ampelfraktionen eine Einigung über die Form der Aufarbeitung erzielen. Scheitert sie, könnte die FDP-Fraktion versuchen, eine Enquetekommission zu erzwingen, indem sie im Bundestag einen entsprechenden Antrag einbringt. Ein Viertel Jastimmen würde genügen – und in der Union spricht sich nicht nur Armin Laschet für eine Enquetekommission aus. Mehrere seiner Fraktionskollegen wollen sie ebenfalls, darunter sogar Jens Spahn, obwohl er dort auch unangenehme Fragen zu beantworten hätte, nicht zuletzt zur Maskenbeschaffung: „Wir sollten eine Enquetekommission einrichten, und zwar zeitnah“, sagt Spahn. „Wenn jetzt noch ein Jahr vergeht, ist der Mehrwert irgendwann fraglich.“

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