„Leise zieht durch mein Gemüt“ – noch bevor das liebliche Geläute in Edvard Griegs Vertonung von Heinrich Heines Gedicht aus dem Jahr 1831 erklingen kann, unterbricht Christian Gerhaher seine junge Kollegin. Gleich an den ersten beiden Wörtern hat er etwas auszusetzen. Das „zieht“ sei zu kurz, und auf das „leise“ habe die Sopranistin einen zu starken Akzent gelegt. Die Zuhörer dürfen sich ebenfalls korrigiert fühlen. Gerade dieser Akzent, der deutlich gesetzte Anfang und die hörbare Freude daran, aktivierte sogleich ihre Bereitschaft, sich hinreißen zu lassen. Die morgendliche Unterrichtsstunde vor Publikum findet in einem langgestreckten Saal im sogenannten Retreat-Gebäude des Hotelkomplexes von Schloss Elmau statt. Herrlich leuchtet die Natur durch hohe Fensterreihen zu beiden Seiten hinein. Zu anderen Tageszeiten hat hier das Ritual der Yogaklassen seinen Platz. Auch einige der Freunde des Liedgesangs, die Christian Gerhaher als Lehrer erleben möchten, haben an diesem Morgen durch Atemübungen ihre Aufmerksamkeit geschärft.

Marcel Reich-Ranicki hat Heines Gedicht 1999 in der „Frankfurter Anthologie“ des Feuilletons der F.A.Z. interpretiert. Seine Interpretation beginnt mit dem Satz: „Dieses Gedicht bedarf nicht der geringsten Erklärung.“ Das ist eine ironische Pointe im Geist Heines, ein Gruß des Kritikers an den von ihm besonders verehrten Dichter – denn für Erklärungen von Gedichten hatte Reich-Ranicki doch die Rubrik der „Frankfurter Anthologie“ erfunden. Statt Erklärungen bietet er in diesem Fall Zahlen. In acht Versen verwendet Heine dreimal das Verb „klingen“. Das Gedicht ist Klang, setzt Klang ein und handelt vom Klang. Man versteht es ohne weiteres, ohne Erklärungen und auch ohne Musik. Man versteht dabei aber auch, was das Gedicht ohne jeden Anklang technischer Begriffe der ästhetischen Theorie über seine eigene Machart sagt. Etwas zieht durch das Innere des Dichters oder Sängers, er ist das Organ oder Medium der Poesie oder Musik. Es singt in ihm und dann auch aus ihm heraus. Deshalb verträgt das „leise“ in Griegs „Gruß“ keinen Akzent.







Das Gedicht bedarf auch in Griegs Fassung nicht der geringsten Erklärung. Gerhaher verliert keine Worte über das mystische Paradoxon des Anfangens ohne Anfang, fordert die Sängerin nicht auf, hineinzugleiten in den ersten Vers wie in einen Morgengruß beim Yoga, sondern macht es ganz einfach vor, indem er selbst die Anfangsphrase singt. Seine Ansagen hält er schlicht: „Leise heißt leise.“ Beziehungsweise hier: „soft“. Die Unterrichtssprache ist Englisch, die Sopranistin und ihr noch etwas jüngerer Kommilitone mit dem Stimmfach Bariton sind Studenten der Royal Academy of Music aus London. Ihr Professor James Cheung spielt das Klavier. Zum dritten Mal haben Gerhaher und der Pianist Gerold Huber, mit dem ihn seit Studientagen eine unzertrennliche Partnerschaft verbindet, eine „Liedwoche“ mit Konzerten und Vorträgen in Schloss Elmau kuratiert. Am Nachmittag des vorletzten Tages geben die beiden Londoner Studenten ein Konzert mit dem Material ihres so kurzen wie intensiven Kurses.

Dass Gerhaher auf Englisch über deutsche Lieder doziert, gibt dem Setting etwas Künstliches, das allerdings der Konzentration förderlich ist und dem Ernst der Sache entspricht, wie Gerhaher sie versteht. Eine Ebene der Distanz wird eingezogen. Selbst das prosaische pädagogische Arrangement, das so unkompliziert wie möglich gehalten ist, enthält eine Lektion über die Gattung. Das Lied, das deutsche Lied oder Kunstlied, dessen Maßstäbe Franz Schubert gesetzt hat, zielt im Verständnis von Gerhaher auf eine Illusion von Intimität. Da es eine Illusion ist, kommt zu ihrer Erzeugung das genaue Gegenteil von Intimität zum Einsatz. Alle Kunstmittel des Liedgesangs, verstanden im umfassenden Sinne, nicht beschränkt auf die musikalische Gestaltung, sind Techniken der Distanz, des vorsorglichen Abstands. Das beginnt beim Liederabend mit der Verteilung der Mitwirkenden im Raum. Im Gespräch hebt Gerhaher hervor, „dass der Sänger frontal zum Publikum steht“. Der Sänger bleibt stehen, geht nicht herum und spricht seine Worte – Gerhaher spricht vom Singen als Sprechen – „in eine Richtung“, so dass jeder Zuhörer meint, diese Worte zielten just auf ihn, obwohl der Sänger den ganzen Saal adressiert. Die überflüssige Akzentuierung des Einsatzes der Stimme in Griegs Heine-Lied ist so etwas wie ein Schritt nach vorn, das voreilige Aufdrängen von Nähe.











Gerhaher übersetzt „leise“ mit „soft“, nicht mit „quiet“. Sacht und sanft hebt das Lied an, aber nicht ruhig. Es ist innerlich bewegt, man könnte auch sagen, ein wenig selbstverliebt, es läutet nämlich mit der Beschwörung des lieblichen Glockenklangs sich selbst ein. Im dritten Vers spricht die Stimme das Lied, das sie gerade singt, mitten im Vortrag wie eine Person an, als „kleines Frühlingslied“. Leise heißt leise, doch schon beim nächsten Wort schlägt Gerhaher die Möglichkeit aus, dem Wortlaut eine Vortragsanweisung zu entnehmen. Scheinbar hätte nichts nähergelegen als der Rat, das Wort „zieht“ hübsch in die Länge zu ziehen. Aber ein solcher gut brauchbarer Merksatz zu dieser einen Stelle hätte ein Verständnis der Kunst des Liedgesangs souffliert, das Gerhaher für ein fatales Missverständnis hält. Die Aufgabe des Sängers wäre es, nachbildend zu verdoppeln und verdeutlichend auszubreiten, was in den Noten steht. Das Lied würde zu einem Gegenstand der Bebilderung. Für Gerhaher ist dieser Ansatz ein Rezept für Sentimentalität und der Inbegriff des schlechten Geschmacks.

Die unglückliche Liebe zum Seufzermotiv als Sängerberufskrankheit will er an der Quelle bekämpfen. Daher wartet er nicht ab, bis einer der Londoner Akademiezöglinge, die beide das differenzierte Gestalten sehr gut gelernt haben, vielleicht einmal so dick aufträgt, dass es auch dem Publikum missfallen könnte. Schon die leise Andeutung einer Neigung zur Überakzentuierung im Grieg-Probevortrag ist Gerhaher Anlass genug für die Darlegung seiner Prinzipien: „Liedgesang heißt nicht, dass man durch Klang ein Wort interpretiert.“ Das Apodiktische der Aussage darf verblüffen. Nach volkstümlichem Verständnis der Dinge müsste das Gegenteil richtig sein. Was können und sollen Liedsänger denn anderes tun, als Worte durch Übertragung in Klänge auszudeuten? Der Fehler liegt darin, das einzelne Wort herauszuschneiden und es klangmalerisch zu bearbeiten, damit es rundum glänzt wie ein Osterei oder eine Christbaumkugel. So wichtig ist das Wort nun auch wieder nicht. Oder genauer: So viel hat es als einzelnes nicht zu bedeuten. Gerhaher verkündet sein Bilderverbot: „Im Liedgesang illustrieren wir nicht.“





„Wir versuchen immer, ein abstraktes Resultat zu erreichen.“

CHRISTIAN GERHAHER



Scheinbar hat er nicht den besten Moment für die Proklamation dieser Regel gewählt. Denn wird sie nicht sofort widerlegt, als die Sopranistin dann endlich weitersingt? „Leise zieht durch mein Gemüt liebliches Geläute.“ Edvard Grieg hat für „Ge“ und „läu“ zweimal denselben Ton gewählt, zuerst kurz und unbetont, dann sofort lang und betont. Hier illustriert die Musik den Text, als könnte das musikalische Bild aus dem Gedicht gar nicht anders zum Klingen gebracht werden. „Geläute“ klingt wirklich nach Glockenläuten, aus dem Mund einer jungen Sängerin, die sich fröhlich ins Zeug legt, sogar wie eine Fahrradklingel. Die Lautmalerei ist eines der wichtigsten Mittel der Gedichtvertonung wie schon des Gedichteschreibens selbst und widerlegt Gerhahers Lehre nicht. Im Gegenteil: Gerade weil das Lied stellenweise wie gemalt ist, benötigt der Sänger keinen Pinsel. Das „Klangbild“, erläutert Gerhaher seiner Schülerin, darf mit dem „Textbild“ nie ganz zur Deckung kommen: Austauschbare Bilder wären langweilig. Der Sänger soll die Bedeutung des Liedes vermitteln, aber diese Bedeutung ist keine Anhäufung von Eindeutigkeiten nach Art des Memory-Spiels. „Wir versuchen immer, ein abstraktes Resultat zu erreichen.“




„Im Liedgesang illustrieren wir nicht“: Christian Gerhaher, der als Professor an der Musikhochschule München und in Seminaren in Elmau sein Wissen weitergibt, treibt seinen Schülern schon früh den Sinn für Überakzentuierung aus.




Dieser Satz ist selbst abstrakt formuliert und könnte in seiner Schroffheit einschüchtern. Er wolle eigentlich nur an der Aussprache des Deutschen arbeiten, hatte Gerhaher zu Anfang des Kurses den Schülern und den Zuhörern eröffnet. In der richtigen Aussprache erschöpft sich für ihn das Lehrhafte seines Metiers. Jenseits der Diktion beginnt die Interpretation, die Sphäre des individuellen Ausdrucks, der nicht am Maßstab von richtig oder falsch beurteilt werden kann. Gerhahers Unterricht ist also Propädeutik, will eine sichere Grundlage für die Erkundung interpretatorischer Möglichkeiten bieten. Das Vorgehen ist kompromisslos analytisch, setzt bei den kleinsten Einheiten an, den einzelnen Lauten. Viel hören die Studenten über Diphthonge oder über die Regel, dass im Deutschen vor doppelten Konsonanten offene Vokale stehen.

Einen denkbar großen Kontrast zu dieser handfest nützlichen Lautklauberei bilden die von Gerhaher auffällig häufig eingestreuten Sätze in philosophischem Duktus, Sentenzen über die tonlose Innenwelt der Liedkunst. Auch dieses Lehrmittel gehört zu den Kunstgriffen der Distanzierung. Gerhaher mutet seinen jungen Berufsgenossen den plötzlichen Perspektivwechsel zu, den Sprung auf eine Ebene von Definitionen, wo von Intonation, Tempo, Melodieführung, Lautstärke, Nachhall und überhaupt von Musik keine Rede mehr ist. Was kann es heißen, dass Liedsänger ein abstraktes Resultat zu erreichen versuchen? Ein Lied vermittelt eher eine Stimmung als eine Botschaft, gleicht eher einer Beschwörung als einem Appell. Das Wechselspiel der Nuancierungen macht eine Gesamtwirkung möglich, die etwas Unbestimmtes behält. Dieser Effekt kann dann im übertragenen Sinn Nachhall heißen.

Die Übung, der sich die beiden Studenten aus London in Elmau unterziehen, hat in der Ausbildung von Berufsmusikern einen festen Platz unter dem Namen „Masterclass“: außerordentlicher Unterricht bei einem Meister des eigenen Faches. Im Lied genießt derzeit kein Meister höheres Ansehen als Christian Gerhaher, der 1969 im niederbayerischen Straubing geboren wurde und selbst gar keinen Gesangsstudiengang absolvierte, weil die Regularien des Medizinstudiums, das er zum Abschluss brachte, ein Doppelstudium nicht zuließen. Der König im Reich der Lieder war in Gerhahers Studienzeit und eigentlich in der gesamten Nachkriegszeit Dietrich Fischer-Dieskau (1925 bis 2012), der das Repertoire durch ständige Pflege sozusagen kodifizierte und etwa die Gesamtaufführung der 24 Lieder von Schuberts „Winterreise“ durchsetzte, die heute selbstverständlich ist. Im Gespräch erzählt Gerhaher von dem Privatunterricht, zu dem Fischer-Dieskau ihn und Gerold Huber einmal empfing. „Er war nett, aber er hat uns nichts Neues gesagt, weil wir aus seinen Aufnahmen schon alles gelernt hatten.“ Gerhaher zählt Fischer-Dieskau unter seine „imaginären Lehrer“.



„Wenn man anfängt, alles zu illustrieren, wird es sehr schnell lächerlich.“

CHRISTIAN GERHAHER



Findet ein Meisterkurs vor Publikum statt, stellt sich leicht ein Hauch von Zirkusatmosphäre ein. Der Weg in die Musikwelt ist von harter Konkurrenz geprägt; die Pädagogik der Grausamkeit ist hier noch nicht verbannt. Man kann berühmte Solisten erleben, die den Perfektionismus skandalisieren und die Macht des unvermeidlichen Drills dadurch zu brechen versuchen, dass sie Schutzbefohlene wegen zu perfekter Leistungen demütigen. Solche Anwandlungen von Sadismus wären bei Gerhaher unvorstellbar. Er ist nicht bloß nett, sondern die Freundlichkeit in Person. Aber die allgemeinen Sätze, die im Fortgang des Unterrichts anfallen, formuliert Gerhaher deshalb so streng, weil sie für die soziale Situation eines öffentlichen Konzerts gelten sollen, nicht für die private Beschäftigung mit deutschem Liedgut. Ein Liedsänger variiert Tonfälle, markiert Haltungen, skizziert Rollen – exponiert sich aber als Person. Aus dem Ziel der Illusion der Intimität ergibt sich das Risiko der Peinlichkeit. Die Gesetzeskraft, die Gerhaher seinem Regelwerk durch seinen Ton der Bestimmtheit beilegt, trägt diesem Berufsrisiko Rechnung. „Wenn man anfängt, alles zu illustrieren, wird es sehr schnell lächerlich.“ Entschiedenheit und Behutsamkeit gehen beim Gesangslehrer Gerhaher Hand in Hand. Sein Beispiel für die fatalen Nebenwirkungen ungenauer Aussprache leitet er mit dem Hinweis ein, dass Muttersprachler diesen Fehler ebenso häufig machen wie Sprecher, die das Deutsche als Fremdsprache gelernt haben. Als zweites Probestück singt die Sopranistin ein weiteres Lied von Edvard Grieg, „Zur Rosenzeit“, auf Worte Goethes, mit dem ersten Vers „Ihr verblühet, süße Rosen“. Fast von selbst geschieht es, warnt Gerhaher, dass „verblühet“ sich wie „verblühöt“ anhört.




Entschiedenheit und Behutsamkeit gehen Hand in Hand: Christian Gerhaher lehrt singend während der Liedwoche in Schloss Elmau. Am Klavier Gerold Huber.




Das Gefährliche solcher Unreinheiten sieht er darin, dass sie die Zuhörer ablenken und die Aufmerksamkeit im Saal auf die Person des Sängers oder der Sängerin umlenken. „Der Sänger ist aber nicht interessant für das Publikum.“ So dezent wie möglich führt Gerhaher die wichtigste Lektion aus seiner kritischen Auseinandersetzung mit den Routinen des eigenen Metiers ein, sein Missfallen am Distanzverlust, wenn sich ein Sänger in den Vordergrund spielt. Diesen falschen Schritt kann der Sänger auch absichtslos tun, durch eine Nachlässigkeit in der Aussprache, die bei den Zuschauern für Irritation sorgt, obwohl es ihnen dauernd unterläuft, dass sie den offenen Vokal einer Endsilbe in einem dunklen Umlaut einkapseln. Der Sänger ist nicht das Thema des Gesangs, „sondern nur das Medium, und idealerweise wäre dieses Medium sehr schlank, hätte gar keine Dimensionen“. Das ist sehr überspitzt gesagt, im pädagogischen Interesse: Der ideale Sänger wäre nulldimensional, hätte gar keine Präsenz im Raum. Das Publikum, führt Gerhaher weiter aus, womit er nun fast seine gesamte Gesangstheorie durch das exemplarische Nadelöhr der „e”/”ö“-Verwechslung fädelt, das Publikum neige dazu, den Sänger mit der Person zu verwechseln, von dem das Lied handelt, zumal wenn das vertonte Gedicht in der ersten Person Singular verfasst ist.

Im Yogasaal von Schloss Elmau erkennt das Publikum seine Neigungen wieder, aber vielen Zuhörern steht jetzt ein unverhofftes Wiedersehen mit einem Objekt der Abneigung aus der Schulzeit bevor, einer komischen Unperson aus dem Deutschunterricht, dem lyrischen Ich, hier englisch verballhornt zum „lyrical I“. Dass man bei Gedichtinterpretationen im Schulaufsatz genötigt war, über die Erlebnisse einer gesichtslosen Kunstfigur Buch zu führen, schien dem Leser die Möglichkeit zu versperren, zwischen den Gedichtzeilen die eigenen Gefühle wiederzufinden. Für Gerhaher garantiert im Gegenteil die Künstlichkeit des lyrischen Ich, wie sie schon in diesem Kunstnamen für die Sprecherinstanz zum Ausdruck kommt, die Zugänglichkeit des Gedichts. Zugänglich ist es gerade wegen der Abstraktheit, auf die es die Liedinterpretation abgesehen hat, weil sie ein Wesenszug von Gedichten ist. Wer ein Gedicht als Geständnis des Dichters versteht, nimmt es zu konkret. Hier spricht ein Ich für jedermann, das wie niemand im tatsächlichen Leben ist. Es lässt sich von Maximen, Assoziationen und Reflexen leiten, die nur in einem Gedicht zusammenpassen.











Diesen paradoxen Grundzug der Eingängigkeit durch Weltfremdheit demonstriert Gerhaher an Heines Frühlingsgruß. Reich-Ranicki hat in seiner Interpretation darauf hingewiesen, dass durch das konventionellste Symbol der Weltliteratur, die Rose als Stellvertreterin der geliebten Frau, verdeckt wird, was „diese so harmlos anmutenden Verse“ tun. Die Annäherung hat eine Distanzierung zur Voraussetzung, die Reich-Ranicki mit Heines Entscheidung für das Exil in Verbindung bringt. Wird die Frau den Liebenden abweisen? „Er will es nicht darauf ankommen lassen, er will nicht vor ihrer Tür stehen oder zu ihrem Fenster hinaufblicken. Ihm genügt es, wenn sein Frühlingslied sie erreicht.“

Gerhaher sieht in seiner improvisierten Erklärung des Liedes von solchen biographischen Informationen ab und präsentiert seiner verdutzten Schülerin stattdessen Anfängerwissen aus dem Lehrbuch der Botanik. Rosen blühen nicht im Frühling. Es ist also unmöglich, dass das kleine Frühlingslied unter den Veilchen eine Rose entdeckt – wie es aber ohnehin schon von vornherein unmöglich ist, einem Lied eine Aufgabe der botanischen Klassifikation zu übertragen, weil Lieder keine Augen haben. Was das lyrische Ich sich ausmalt, spielt sich in seinem Inneren ab, das wiederum eine Erfindung des Dichters ist. Ein Gedicht ist so gesehen ein doppeltes Phantasieprodukt. Dieses Phantastische nachvollziehbar zu machen ist die Herausforderung des Liedgesangs.

Im Verlag C.H. Beck ist vor zwei Jahren ein „Lyrisches Tagebuch“ von Christian Gerhaher erschienen. Wie es die Gattung des Tagebuchs verlangt, ist es in der ersten Person Singular abgefasst, aber natürlich hat hier kein lyrisches Ich geschrieben. Gerhaher hat seine Gedanken über seine Erfahrungen in einer dreißigjährigen Karriere als Liedsänger gesammelt, ausgeführt anhand von Werken von Franz Schubert bis Heinz Holliger. Mit Blick auf Robert Schumanns Vertonung von Joseph von Eichendorffs Gedicht „Der Einsiedler“ („Komm, Trost der Welt, du stille Nacht“) artikuliert Gerhaher mit der ihm eigenen Vorsicht eine Hoffnung, die weniger feinsinnige Interpreten als Gewissheit in den Raum stellen würden: Möge die Sehnsucht des Dichters wie des Komponisten, dem christlichen Vokabular des Gedichts zum Trotz, mehr „auf die Vereinzelung“ gerichtet sein als auf eine Religionsgemeinschaft. „Denn das Kunstlied als musikalische Inkarnation eines Gedichts im Speziellen und des Lyrischen im Allgemeinen kann nicht auf einen Gemeinschaftsklang ausgehen, sondern sucht die Verkörperung im Singulären.“




Schloss Elmau ist ein Denkmal der deutschen Kultur der Lebensreform. Der Theologe Johannes Müller, der das Hotel im Ersten Weltkrieg errichten ließ, glaubte an die Vergemeinschaftung durch rhythmische Regulierung des Tagesablaufs. Gemeinschaftsverpflegung und gemeinschaftliche Erbauung der Gäste in Konzerten und auf Tanzabenden sollten entgrenzende Wunder „im Sinne der Bergpredigt“ wirken.

Wenn in unseren Tagen Liebhaber der Liedkunst aus weiter Ferne im Zweijahrestakt zu den „Liedwochen“ nach Elmau kommen, versammeln sie sich zu Exerzitien der Vereinzelung. Sie reisen an, um Christian Gerhaher zu hören, doch wenn es nach ihm geht, soll ihnen bei der Abreise aufgegangen sein, dass sie Christian Gerhaher gar nicht zu hören bekommen haben. Das Persönlichste an einem Sänger ist die Stimmfarbe, das Timbre, bei einer Aufnahme von Gerhaher oder Fischer-Dieskau sofort erkennbar. Aber auch dieses Unverwechselbare hat in Gerhahers Kunstauffassung den Charakter eines Zeichens, einer Chiffre der Individualität. So führt er seine Betrachtung über den „Einsiedler“ fort: Die „Person des Sängers“ ist eben „von keinerlei Interesse“, denn interessant wäre doch immer nur das, was einem bekannt vorkäme, was er mit den Zuhörern gemeinsam hätte; „die individuelle Einzigartigkeit seines Stimmklangs aber verweist auf das Prinzip der kommunikativ notwendigen Sprache eines Einzelnen“.

Dass Sänger auf der Hut sein müssen, wenn sich ihnen Gelegenheiten bieten, aus persönlichen Erfahrungen Kraft für ihre Arbeit der Interpretation zu ziehen, führt Gerhaher der Londoner Studentin anhand des wuchtigsten Stücks des Repertoires vor Augen. Wenn sie mit der „Winterreise“ auf Tournee geht, befindet sie sich ebenfalls auf einer Reise. Aber wenn sie in dieser Zeit auf einen wichtigen Brief wartet, prädestiniert sie das nicht dazu, das Lied „Die Post“, in dem der Klang des Posthorns sehnsüchtige Gedanken auslöst, besonders authentisch vorzutragen. „Was hat es, dass es so hoch aufspringt, mein Herz?“ Die Antwort muss im Lied stecken.