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Es war der 27. März, als eine Meldung aus der zweitgrößten Stadt der Ukraine aufhorchen ließ. Russland habe Charkiw erstmals mit einer Gleitbombe angegriffen, teilten die örtlichen Behörden an diesem Tag mit. Die Bombe schlug in einem Wohnviertel ein, tötete mindestens einen Menschen und verletzte ein Dutzend weitere. Die Behörden sprachen zynisch von einem „Test an der Zivilbevölkerung“.

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Die Meldung passt in das größere Bild, das die russische Armee seit einiger Zeit zeichnet. Wie Daten des norwegischen Analysten Ragnar Gudmundsson zeigen, haben seit Jahreswechsel die Angriffe aus der Luft wieder stark zugenommen. Die Zahlen basieren auf den täglichen Berichten der ukrainischen Streitkräfte. Dabei zeigt sich: Setzten die Russen zunächst auf Drohnen und Marschflugkörper, kommen nun vermehrt Flieger­bomben und Raketenartillerie zum Einsatz. Laut dem ukrainischen Außenminister Dmytro Kuleba hat Russland allein zwischen dem 18. und 24. März 190 Raketen, 140 Shahed-Drohnen und 700 Gleitbomben auf Ziele in der Ukraine abgefeuert.

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Gleitbomben halfen bei der Eroberung Awdijiwkas

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An der Front im Donbass spielt die Luftunterstützung für den russischen Vormarsch eine entscheidende Rolle. Fachleute gehen davon aus, dass vor allem gelenkte Gleitbomben zum Fall der lang umkämpften Stadt Awdijiwka im Donbass im Februar beigetragen haben. Seit Mitte März haben insbesondere die Attacken auf Charkiw zugenommen. Wie die britische Zeitschrift „Economist“ unter Berufung auf militärische Quellen in Kiew berichtete, legen sie nahe, dass Russland die Stadt „unbewohnbar für Zivilisten“ machen will. Laut einem russischen Kriegsblogger hat Moskau die Zahl der Gleitbombenangriffe im Gebiet Charkiw deutlich erhöht. Demnach hätten allein am 5. April hundert Gleitbomben die Region attackiert, verglichen mit 900 im gesamten März.

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Moskau hat eine billige und schnelle Möglichkeit gefunden, „dumme“ ungelenkte sowjetische Bomben in ein relativ präzises Waffensystem umzurüsten. Die Gleitbomben wurden so modifiziert, dass sie mit Flügeln und einem Navigationssystem ein feindliches Ziel ansteuern können. Sie werden von Su-34- und Su-35-Kampfflugzeugen abgeworfen. Ukrainische Soldaten sorgen sich vor allem vor der wohl neuesten und zerstörerischsten Variante: der 1,5 Tonnen schweren Gleitbombe FAB-1500. Es gibt auch weniger wirkmächtige Typen wie die FAB-250 und FAB-500. Die Zahlen stehen für das Gewicht der Waffe. Das russische Verteidigungsministerium behauptet sogar, dass die „Massenproduktion“ von FAB-3000-Bomben angelaufen sei; westliche Fachleute hielten eine solche Waffe für unpraktikabel.

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Die FAB-1500 allerdings stellt Kiew vor große Probleme. Ein ukrainischer Soldat sagte dem amerikanischen Sender CNN: „Nicht alle unsere Leute halten das aus. An die FAB-500 sind sie inzwischen mehr oder weniger gewöhnt, aber die FAB-1500 ist die Hölle.“ Die amerikanische Militäranalystin Kelly Grieco sagt der F.A.Z., dass die Waffe ukrainische Kommandoposten oder Stellungen zerstören könne. Von russischen Militärbloggern wird sie auch „Gebäudezerstörer“ genannt.

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Sie zielen auf die Großstädte mit schlechterer Flugabwehr

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„Russische Gleitbomben haben besonders an den Frontlinien eine zerstörerische Wirkung“, sagt Grieco. Aufgrund ihrer Größe und Nutzlast hätten sie eine größere Sprengwirkung als Artillerie und andere Munition, die an der Front eingesetzt wird. Ein wichtiger Vorteil sei die Reichweite. Die Bomben könnten aus einer Entfernung von etwa 40 Kilometern eingesetzt werden. Dies bedeute, dass Kiew Flugabwehrraketen mit größerer Reichweite verwenden müsse: „Leider sind genau diese Abfangraketen Mangelware.“

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Eine FAB-500-Gleitbombe hat im Januar 2024 einen Wohnblock in Oritschiw zerstört.
A FAB-500 glide bomb destroyed an apartment block in Orichiv in January 2024.Anadolu/Picture Alliance

Die Gleitbomben ändern das Momentum im Luftkampf. Bislang haben Kampfflugzeuge an der Front nur partiell eine wichtige Rolle gespielt, obwohl Russlands Luftstreitkräfte auf dem Papier klar überlegen sind. Das liegt an äußerst effektiven bodengestützten Abwehrsystemen auf beiden Seiten. Russische und ukrainische Flugzeuge sind vulnerabel in der Nähe umkämpfter Gebiete. Die modifizierten Gleitbomben erlauben es Moskau derzeit häufig, Ziele in sicherer Entfernung außerhalb der ukrainischen Luftverteidigung anzugreifen.

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Nicht nur Charkiw, sondern auch andere Großstädte werden seit einigen Wochen wieder verstärkt Ziel von Luftangriffen. Im Visier ist besonders die Energieinfrastruktur: Kraftwerke, Strom­leitungen, Umspannwerke. Stark betroffen sind Städte, die eine schlechtere Flugabwehr haben als die Hauptstadt Kiew.

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Es ist nicht das erste Mal, dass Moskau seine Strategie in der Luft verändert. Zu Beginn der ukrainischen Gegenoffensive im vergangenen Jahr setzte Russland verstärkt auf die modernen Kampfhubschrauber Kamow Ka-52 Alligator. Sie haben Kiews Gegenstöße teils verlangsamt und den Truppen schmerzliche Verluste zugefügt. Die Ukraine kann sich inzwischen besser gegen sie verteidigen – mehrere Abschüsse der Hubschrauber wurden bestätigt. Die modifizierten Gleitbomben sind der nächste Versuch Russlands, den Luftkampf zu dominieren. Zwar verfügt auch die Ukraine mit der amerikanischen Joint Direct Attack Munition über gelenkte Bomben, allerdings in einem viel geringeren Umfang.

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Nach der groß angelegten Invasion im Februar 2022 und der gescheiterten Einnahme Kiews beschränken sich die Kampfhandlungen am Boden auf den Süden und Osten der Ukraine. Das heißt jedoch nicht, dass es im Rest des Landes ruhig ist. Das Heulen der Sirenen, wenn Luftalarm ausgelöst wird, gehört im ganzen Land wieder zum Alltag.

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Mit Kerzen gegen die Dunkelheit

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Die Intensität der russischen Luftangriffe auf Ziele hinter der Front variiert seit Kriegsbeginn. Im ersten Kriegswinter versuchten die Russen, die Ukrainer mürbe zu machen, indem sie vor allem auf die Energieinfrastruktur zielten. Kurz zuvor hatten die Ukrainer sie mit ihrer ersten Gegenoffensive aus Teilen des besetzten Gebiets Charkiw zurückgedrängt und meldeten ebenfalls Erfolge im Süden, wo sie im November gar die Großstadt Cherson zurückerobern konnten. Russlands Plan im Herbst 2022 war offenbar, die Ukrainer in der kalten Jahreszeit ohne Heizung, Licht und Wasser in ihren Wohnungen sitzen zu lassen.

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Doch die Menschen kauften sich Kerzen, Generatoren, Powerbanks. Sie legten Wasservorräte an, und in vielen Aufzügen fanden sich Pakete mit einer Flasche Wasser und ein paar Snacks – für den Fall, dass man wegen eines Stromausfalls plötzlich stecken bleibt. Als der Frühling kam, nahmen die Angriffe auf die Energieinfrastruktur wieder ab. Im Mai 2023 wurde dann Kiew zum Ziel nächtlicher Angriffe. Wer damals mit Menschen aus der Hauptstadt sprach, der hörte, dass sie müde seien, erschöpft. Die Kollegen auf der Arbeit seien deutlich gereizter als sonst, erzählte mancher.

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Im zweiten Kriegswinter blieben Attacken auf die Energieinfrastruktur zunächst aus. Überhaupt war es bis Ende Dezember 2023 vergleichsweise ruhig im ukrainischen Himmel. Im November 2023 schickten die Russen gerade einmal 150 Drohnen und Marschflugkörper – kein Vergleich zu den 395 im Vorjahr. Militäranalystin Kelly Grieco geht davon aus, dass Russland sein Arsenal aufgespart hat, um es später in großer Zahl einzusetzen. „Die Russen haben wohl beschlossen, einen günstigen Zeitpunkt dafür zu wählen“, sagt Grieco. Sie wüssten, dass die Ukrainer an der Front verwundbar seien, da es an Personal und Artillerie mangele. „Sie beabsichtigen mit ziemlicher Sicherheit, diese Schwäche am Boden auszunutzen und eine groß angelegte Offensivoperation zu starten.“ Zudem hat Russland auf Kriegswirtschaft umgestellt. Die Rüstungsproduktion wurde hochgefahren, Staaten wie Nordkorea und Iran versorgen den Aggressor zusätzlich mit Waffen und Munition.

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Es braucht endlich F-16

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Russland nutzt die lückenhafte ukrainische Luftverteidigung gnadenlos aus. Grieco sagt, die Ukrainer hätten im Februar ein amerikanisches Patriot-System näher an die Front verlegt. In jenem Monat haben sie offenbar 13 russische Kampfflugzeuge in knapp zwei Wochen abgeschossen. „Die Angriffe mit Gleitbomben scheinen danach für eine Weile nachgelassen zu haben“, so Grieco. Doch Anfang März sei es Russland gelungen, zwei Abschussrampen mit einer ballistischen Rakete zu zerstören. Danach habe die Ukraine das System offenbar wieder zurückgezogen. „Und die Gleitbombenangriffe haben etwa Mitte März wieder ihre frühere Intensität erreicht.“

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Die Ukraine hofft, dass sie mit den versprochenen westlichen F-16-Kampfflugzeugen sich besser gegen Gleitbombenangriffe verteidigen kann. Einige Fachleute sagen, das sei möglich, andere sind skeptisch. Auch Grieco hält das für unwahrscheinlich. Die F-16 müssten in Reichweite russischer Verteidigungssysteme wie des S-400 fliegen, um die feindlichen Flugzeuge zu bekämpfen. „Das russische Radar würde die F-16 wahrscheinlich entdecken, bevor sie in Reichweite sind, um ihre Waffen abzufeuern können.“

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Von Nutzen wären eher weit reichende Luftverteidigungssysteme wie die Patriots oder die französisch-italienischen SAMP/T. Zwar müssten auch diese nah an die Front verlegt werden und wären dadurch leichter angreifbar, aber sie könnten das Gleitbomben-Problem etwas mindern. Andererseits braucht Kiew diese Systeme auch, um die eigene Infrastruktur und Rüstungsproduktion hinter der Front zu schützen. Die Bundesregierung sucht deswegen auch außerhalb der NATO nach Patriot-Systemen für die Ukraine. Die Niederlande, Dänemark und die Tschechische Republik wollen die Initiative unterstützen. Auch der NATO-Ukraine-Rat wird sich diesen Freitag mit diesem Thema beschäftigen. Die Dringlichkeit ist den Partnern bewusst.