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„Ihr müsst nicht perfekt sein. Feiert euch einfach so, wie ihr seid.“ Diese Botschaft ist Angelina Köhler wichtig. Sie hat sie so oder so ähnlich schon ein paar Mal formuliert, seit sie im Februar überraschend Schwimm-Weltmeisterin wurde und ihre Stimme Gewicht bekam. Am Samstagnachmittag streckte sie nach dem Anschlag ihres nicht so perfekten Rennens über 200 Meter Schmetterling auffordernd ihren Arm über die Leine zu dem Mädchen auf der Bahn nebenan. Sie lächelte Alina Baievych an, diese 14 Jahre alte Schwimmerin aus Erlangen, die ihr gerade in Berlin den deutschen Meistertitel weggeschnappt hatte.

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„Glückwunsch“, sagte Köhler. Baievych starrte noch auf die Ergebnistafel an der Hallenwand. Die Zuschauer hatten sich aus den Schalensitzen erhoben. Sie klatschten und staunten, dass gerade ein Teenager die Weltmeisterin über 100 Meter Schmetterling besiegt hatte. Aber was sagt Köhler gern? „Bei mir weiß man nie, was passiert. Mit mir wird es nie langweilig.“

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Köhler zog die junge Gegnerin zu einer herzlichen Umarmung an ihre Schulter. Beide hatten auf dieser Strecke die Nominierungszeit für die Olympischen Spiele in Paris nicht erreicht. Köhler atmete heftig. Das Rennen über 200 Meter Schmetterling gehört zu den härtesten Disziplinen im Becken. Die Laktatbildung schießt hoch, sie ist höher als auf der kürzeren Sprintstrecke. Sich über 200 Meter für Olympia zu qualifizieren war ein Experiment. Misslungen: „Jetzt weiß ich auf jeden Fall, was ich (dieses Rennen/d. Red.) nicht schwimme bei den Olympischen Spielen“, bemerkte Köhler, nachdem sie aus dem Becken gestiegen war. Sie wirkte keineswegs geknickt: „Es hat trotzdem Spaß gemacht und war cool, sich zu batteln. Jetzt kann ich mich zu hundert Prozent auf die 100 Meter konzentrieren.“

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Überraschungssiegerin über 100 Meter Schmetterling: Teenager Alina Baievych besiegt die Weltmeisterin
Surprise winner of the 100 meter butterfly: teenager Alina Baievych defeats the world championdpa

Seit Februar ist Angelina Köhler die „Königin“ über 100 Meter Schmetterling. In Doha gewann sie den ersten WM-Titel einer deutschen Beckenschwimmerin, seit Britta Steffen vor 15 Jahren zwei Mal siegte. Dabei „schmetterte“ Köhler in 56,11 Sekunden im Halbfinale einen deutschen Rekord ins Becken und katapultierte sich mit der neuntbesten je geschwommenen Zeit in die Weltspitze.

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Auch Chaos ist erlaubt

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In Berlin gewann sie den deutschen Meistertitel über 100 Meter Schmetterling am Donnerstag souverän – mit fast drei Sekunden Vorsprung auf Baievych. Es war Köhlers erster Wettkampfauftritt als Weltmeisterin. In den wenigen Wochen zwischen Februar und April versuchte die 23-Jährige all das Neue zu verarbeiten, das auf Profisportler einprasselt, wenn sie einen großen Titel gewinnen – und dabei als Persönlichkeit auffallen. Das tut Angelina Köhler auf besonders sympathische Art. Schon jetzt lässt sich sagen: Ihre frische, offene Art tut dem Deutschen Schwimm-Verband (DSV) gut.

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Dessen Wahrnehmung war zuletzt vor allem von der Strebsamkeit der erfolgreichen Magdeburger Langstrecken-Gruppe um Florian Wellbrock, Isabel Gose und Lukas Märtens geprägt. Märtens setzte am Wochenende mit Jahres-Weltbestzeiten über 200 und 400 Meter Freistil die Glanzlichter der deutschen Meisterschaft. Seit Angelina Köhler in Doha unter Tränen und von Emotionen erfasst die WM-Goldmedaille um den Hals gehängt bekam, versucht sie zu zeigen, dass Erfolg nicht Perfektionismus bedeuten muss. Sondern dass auch Chaos erlaubt ist. Und ein bisschen Missgeschick – solange das Umfeld bereit ist, sich darauf einzustellen.

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„Angie ist unsere Sonne“

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Zu Köhlers Umfeld im Sport gehört Lasse Franks Sprinter-Gruppe bei der SG Neukölln, zu der sie vor zwei Jahren aus Hannover wechselte. Dort hat sie zum ersten Mal erlebt, was individuelle Rundum-Förderung auf Weltklasseniveau bedeutet: dass jeder Delphinkick und – überspitzt formuliert – jede Muskelbewegung analysiert wird. Der kraftvolle Armzug gehörte immer zu Köhlers Stärke. Die Sekunde, die sie früher am Start gegenüber der Weltspitze verlor, und die weitere Sekunde, die sie an der Wende einbüßte, hat sie durch kräftigere Delphinkicks aufgeholt.

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Bei der SG Neukölln hat Köhler nicht nur Trainingskameradinnen gefunden, sondern beste Freundinnen, in Rückenschwimmer Ole Braunschweig ihren besten Freund und in Trainer Frank einen Menschen, der ein Gefühl für die Steuerung kunterbunter Individuen innerhalb eines Teams hat. „Angie ist unsere Sonne“, sagt Frank: „Sie kommt entweder zu spät und ist hektisch. Oder sie kommt strahlend herein mit ihren Regenbogensocken im Wanderschritt und begrüßt alle herzlich. Es lockert ungemein auf, wenn man in eine harte Einheit mit einem Lächeln hineingeht. Das verschwindet zwischendurch mal. Aber am Ende ist es wieder da.“

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Angelina Köhler kennt auch die Tage ohne Lächeln. Nach ihrem WM-Titel erzählte sie von Mobbing in der Pubertät. „Wenn man ziemlich groß und dünn ist, lange Arme hat und ein bisschen größere Zähne, wenn man eine Brille trägt und dann auch noch über die eigenen Füße fällt, ist es ziemlich einfach für große, ältere Jungs, sich über einen lustig zu machen“, schilderte Köhler. Diese Erfahrung stärkte sie.

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„Wir haben die gleiche Macke“

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Erst viel später lieferte ihr die Diagnose ADHS eine Erklärung, weshalb sie manche Dinge einfach nicht so erledigen konnte wie andere. Weshalb sie mal die Schwimmbrille, mal den Badeanzug, mal die Trinkflasche in der Halle vergisst. Weshalb sie oft extreme Ruhe braucht, um Reize zu verarbeiten. Weshalb sie es andererseits schafft, bei wichtigen Wettkämpfen in einen Hyperfokus einzutauchen. Regelmäßige Arbeit mit der Psychologin des Berliner Olympiastützpunktes half ihr, all das zu akzeptieren.

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Ebenso wie die Freundschaft mit Ole Braunschweig. Bei ihm wurde ADHS in der Kindheit diagnostiziert. „Dadurch, dass wir die gleiche Macke haben, sind wir auf einem gleichen Level. Unsere ADHS-Schübe verbinden uns. Wir haben einen ähnlichen Humor und verstehen einander total“, sagt Braunschweig. Der Rückenschwimmer freut sich darauf, in Paris in der Lagen-Mixed-Staffel mit Köhler gemeinsam anzutreten. Köhler sagt, ihr Ziel sei es, in Paris Spaß zu haben. Ins Finale zu kommen – und zu schauen, wofür ihre Leistung reicht.

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